Führung ist nicht schwierig.
Sie ist überfordert.
Nicht, weil die Menschen zu weich, zu jung oder zu „Gen Z“ wären.
Sondern, weil Führung heute in einem System stattfindet, das sie gleichzeitig glorifiziert und lähmt.
„Empathisch sollst du sein. Aber bitte effizient. Nähe zeigen, aber Distanz halten. Entscheidungen treffen – aber nur, wenn sie vorher durch fünf Gremien gegangen sind.“
Kein Wunder, dass viele Führungskräfte in Unternehmen heute eher jonglieren als führen.
1. Die Illusion der Klarheit
Wenn ich mit Führungskräften arbeite, fällt mir immer wieder auf: Die meisten glauben, ihr größtes Problem sei Kommunikation.
Aber das stimmt nicht.
Das eigentliche Problem ist Unklarheit.
Unklarheit darüber, wofür sie stehen.
Unklarheit darüber, welche Entscheidungen sie wirklich treffen dürfen.
Und Unklarheit darüber, wofür sie sich zeigen sollen.
Viele Organisationen sind heute auf eine paradoxe Weise hochmodern: Sie fordern Selbstverantwortung, arbeiten aber mit Machtstrukturen aus den 80ern.
Man soll agil führen – aber bitte auf Basis von vier Excel-Freigabeschleifen.
Man soll Vertrauen schenken – aber bitte erst nach der vierten Risikoanalyse.
Wer in diesem Spannungsfeld führt, braucht kein weiteres Kommunikationsseminar.
Er braucht ein stabiles Fundament, das ihm erlaubt, mitten im Sturm klar zu bleiben, statt sich an das jeweils nächste Buzzword zu klammern.
2. Stabilität ist kein Zustand – sie ist eine Haltung
„Ich will endlich wieder Ruhe im Team“ – dieser Satz fällt in Coachings ständig.
Aber Ruhe ist kein Ziel. Sie ist das Nebenprodukt von Klarheit.
Führung stabilisieren heißt nicht, alles unter Kontrolle zu haben.
Es heißt, sich selbst so gut zu kennen, dass man nicht kollabiert, wenn andere gerade taumeln.
Es heißt, Entscheidungen zu treffen, wenn es weh tut.
Es heißt, Konflikte zu halten, statt sie an HR oder „die Prozesse“ zu delegieren.
Und es heißt, die eigene Rolle zu festigen, auch wenn sie unbequem wird.
Viele Führungskräfte verwechseln Stabilität mit Härte.
Doch Stabilität entsteht nicht durch Abgrenzung, sondern durch Selbstkenntnis.
Sie entsteht dort, wo jemand sich nicht mehr beweisen muss, sondern führen darf.
3. Die drei großen Trugbilder der modernen Führung
Ich sehe in der Praxis immer wieder drei Fehlannahmen, die jede Führung ins Wanken bringen – egal ob in Start-ups, Mittelstand oder Konzern:
Trugbild 1: „Ich muss alles wissen.“
Nein. Du musst nicht alles wissen.
Du musst nur wissen, wo du stehst – und wer um dich herum klüger ist.
Führung ist kein Wissensvorsprung, sondern ein Verantwortungsvorsprung.
Dein Job ist nicht, alles zu wissen, sondern zu entscheiden, was jetzt zählt.
Trugbild 2: „Ich muss immer stark wirken.“
Auch falsch.
Menschen folgen keiner Rüstung, sie folgen einer Haltung.
Wer nie zweifelt, wird irgendwann unberechenbar.
Wer keine Schwäche zeigt, wird irgendwann kalt.
Und wer immer stark wirken will, hat längst den Kontakt zu sich selbst verloren.
Trugbild 3: „Ich bin für alle verantwortlich.“
Nein.
Du bist nicht für alle verantwortlich – du bist verantwortlich für den Rahmen, in dem andere Verantwortung übernehmen können.
Das ist ein Unterschied, der über Burnout oder Wirksamkeit entscheidet.
4. Warum viele Führungskräfte gerade jetzt instabil werden
In den letzten Jahren sind Führungskräfte zu Pufferzonen geworden:
zwischen Ambitionen der Geschäftsführung, Erwartungen der Mitarbeitenden und Anforderungen aus der Gesellschaft.
Sie sollen Leistung sichern, Wandel ermöglichen und gleichzeitig psychologische Sicherheit garantieren.
Das ist, als würde man jemanden bitten, gleichzeitig zu rennen, zu balancieren und zu meditieren.
Die Folge:
Teams, die ständig zwischen Motivation und Erschöpfung pendeln.
Führungskräfte, die in der Sandwichposition zerrieben werden.
HR-Abteilungen, die versuchen, das Ganze mit noch mehr Prozessen zu kitten.
Dabei wäre der Hebel ganz woanders: bei der inneren Stabilität der Führungskraft selbst.
Nicht als Wellness-Maßnahme, sondern als strategische Notwendigkeit.
5. Klarheit entscheidet – nicht Methoden
Viele Unternehmen suchen die Lösung in Methoden.
Führungskräftetrainings, Leitfäden, Führungsmodelle.
Aber Stabilität entsteht nicht durch Tools.
Sie entsteht durch Entscheidungsfähigkeit.
Die besten Führungskräfte, die ich kenne, haben kein einziges agiles Framework im Kopf – aber sie wissen:
Wofür sie stehen.
Was sie akzeptieren.
Und wo ihre rote Linie ist.
Diese innere Klarheit macht sie schnell, verlässlich und ansprechbar – gerade dann, wenn andere schwanken.
6. Was ich mit Führungskräften tue, wenn wir „Stabilität“ erarbeiten
In meinen Coachings geht es selten darum, neue Führungstools zu lernen.
Wir arbeiten an drei Schichten, die jede Führung stabiler machen:
Entscheidungsklarheit
→ Was ist wirklich mein Handlungsrahmen? Welche Spielräume nutze ich – und welche ignoriere ich aus Angst vor Konflikten?Komplexitätskompetenz
→ Wie halte ich Mehrdeutigkeiten aus, ohne mich in ihnen zu verlieren?
Wie erkenne ich Muster, statt Symptome zu bekämpfen?Rollenklarheit
→ Bin ich gerade Chef:in, Coach oder Kolleg:in?
Und wie gehe ich mit den Spannungen zwischen diesen Rollen um?
Das Ergebnis ist keine „perfekte Führungskraft“, sondern ein Mensch, der standhält, wenn andere sich ducken.
Und der mutig bleibt, wenn Entscheidungen nicht mehr beliebt sind.
7. Der Preis von Unsicherheit
Führung, die wankt, erzeugt Unsicherheit – und Unsicherheit frisst Kultur.
Wenn Mitarbeitende spüren, dass Führungskräfte sich selbst nicht trauen, entsteht Angst.
Und Angst ist das teuerste Gefühl im Unternehmen:
Sie kostet Innovation, Vertrauen, Bindung – und Energie.
Eine stabile Führung wirkt wie ein Verstärker: Sie gibt Orientierung, ohne Dominanz.
Sie schafft Freiraum, ohne Chaos.
Und sie vermittelt: Hier passiert etwas – und ich stehe dazu.
8. Fazit: Führung stabilisieren heißt, wieder aufrecht zu stehen
Führung zu stabilisieren heißt nicht, sie zu perfektionieren.
Es heißt, sie menschlich, klar und verlässlich zu machen.
Denn stabile Führung ist keine technische Fähigkeit – sie ist eine innere Entscheidung:
Ich bleibe da, wenn es schwierig wird.
Ich bleibe echt, wenn andere Fassade zeigen.
Ich bleibe beweglich, ohne mich zu verbiegen.
Und das ist – in einer Welt voller Unsicherheiten – die radikalste Form von Leadership, die es gibt.